Köpfe malen

Es gibt Leute, die glauben, das Malen von Portraits sei das Schwierigste, was es in der Malerei gibt. Dazu folgendes: Wenn ich gerne male und zeichne, wenn vielleicht auch ein gewisses Talent dazu kommt, wenn ich es als Berufung und Beruf begreife, wenn ich mich besonders für das Portraitieren von menschlichen Gesichtern interessiere, wenn ich es über viele Jahre ständig tue und trainiere und in all den Jahren keine einzige elektrische Leitung verlegt habe, dann fällt mir das Malen von Portraits möglicherweise leichter, als eben das Verlegen von elektrischen Leitungen. Vielleicht glauben die Leute es deshalb, weil sie meinen, bei Portraits kann man nicht pfuschen. Beim Malen von Landschaften oder Äpfeln müsse vielleicht nicht jeder Strich unbedingt sitzen und abstrakte Malerei sei sowieso nur Pfusch. Alles Quatsch. Ich glaube, dass ein Elektriker da viel schlechter dran ist. Wenn der pfuscht, geht die Lampe nicht an. Ich glaube, dass die ganze Fragestellung falsch ist. Es geht in der Malerei nicht um schwierig oder leicht. Worum es geht? Dazu eine kleine Anekdote:

Pablo Picasso hatte sich einmal vorgenommen, ein Portrait einer Frau namens ich glaube Gertrude von Stein herzustellen. Nach mehreren Sitzungen sah das Portrait ihr immer noch nicht ähnlich. Trotzdem signierte er es und sagte: Irgendwann wird Frau von Stein schon so aussehen, wie ich sie gemalt habe! Hier liegt die Antwort: In der Malerei geht es einzig und allein darum, Bilder herzustellen. Punkt.

Ständig blicken wir in Gesichter. Nicht nur im täglichen Leben, auch wenn wir das Fernsehen einschalten oder Zeitungen aufschlagen. Gesichter, Gesichter, Gesichter. Nicht die Füße von Joschka Fischer oder die Knie von Schröder. Gesichter. Eine Heimsuchung. Und das Fatale: Wir sehen nur die Gesichter, die uns die Mitmenschen zeigen. Ihre Masken. Das eigene Gesicht ist ein Unruheherd. Ständig diese Angst, dass es uns verraten könnte. Wenn über einen Menschen gesagt wird: Jetzt zeigt er sein wahres Gesicht! Dann ist die böse Fratze hinter der Maske gemeint. In der Regel geht es in diesem Fall um Geld, wo bekanntlich die Freundschaft aufhört. Aber es gibt oft genug den gegenteiligen Fall: Ein böses, aggressives Gesicht ist die Schutzmaske für einen sehr sensiblen und verletzlichen Menschen. Das Schaf im Wolfspelz. Die Maus im Elefanten.

Ich betrachte meine Bilder von Köpfen und Gesichtern als Befragungen, als Untersuchungen zum Wesen des Menschen, als ein nie endendes lautstarkes Experiment im Dschungel der medialen Bilderfluten. Dabei gehe ich manchmal zugegeben drastisch vor. Ich komme schließlich von der Satire. Eines ihrer Werkzeuge ist die Übertreibung, mit deren Hilfe sie den Dingen auf den Grund gehen will. Noch nie hat sich jemand von mir freiwillig portraitieren lassen. Im Vergleich zur Fotografie besitzt der Zeichenstift wesentlich mehr Freiheiten, besonders die, gnadenlos vorzugehen. Die seltenen Portraitaufträge, die ich hatte, waren immer von Leuten, die einen sogenannten Freund ärgern wollten. Alle erkennen ihn in der Zeichnung, nur er selbst nicht. Weil er wie jeder von uns ein geschöntes Bild seiner selber in sich pflegt. Bei einer solchen Gelegenheit sagte die Frau eines von mir Gezeichneten zu ihm: Ich habe es immer gewusst: Du hast Hängebacken!

Ich gehe davon aus, dass jedes öffentliche Gesicht eine Schutzlüge ist, hinter der der eigentliche Mensch in seiner ganzen komplexen Schönheit hockt. Das Lügen beginnt schon beim Blick in den Spiegel, in das eigene Gesicht also. Der Spiegel flüstert mir zu: Du bist der/die Schönste, oder: Geht doch! Oder: So schlimm ist es auch wieder nicht! Oder je nach Tagesform auch: Vergiss es! Selten durchdringt dieser Blick die glatte Oberfläche des Spiegels. Oder anders: Das Gesicht ist in der Regel ein geschlossenes Buch. Man sieht nur das Cover, den Schutzumschlag. Beim Zeichnen gilt es, das Buch zu öffnen und darin zu lesen.

In ganz seltenen Momenten fällt diese Maske, und zwar in Momenten der Krise. Dazu gehört auch das Lachen, denn hinter jedem Witz und jeder komischen Situation steckt ein Drama. Ein Beispiel: Wir gehen mit einer Gruppe von Freunden in ein Restaurant zum Essen. Paul bestellt sich eine Portion Sülze mit Kartoffelsalat und Remouladensoße. Herzhaft drückt Paul die Gabel in die Sülze. Diese befand sich in der Gegend am unteren Rand des Tellers. Dieser untere Rand ragte wegen Platzmangels ein Stück über den Tischrand hinaus. Bei dieser Aktion verliert der Teller sein Übergewicht und klappt in einem einzigen schnellen Schwung komplett mit der Speise zuerst auf Pauls Hose. Das war für alle beteiligten Gesichter der Moment der Wahrheit: Hier entgleisten die Gesichtszüge, hier platzten die Masken, bei Paul aus Wut und Ärger, bei uns im herzhaften Lachen. Das alles ging zu schnell, um die gewohnte Ordnung der Gesichtszüge im Zaum zu halten.

Gibt es ein treffenderes Bild als dieses: Züge im Gesicht, die auf eisernen Gleisen montiert sind, je nach Anlass und Bedarf auf festgelegten Spuren ins Rollen gebracht, auf Verschiebebahnhöfen umgelenkt oder stillgelegt werden? Es ist ein wunderbares Abenteuer, dieses Schienennetz beim Zeichnen aufzulösen und dabei im Glücksfall Facetten der dahinter verborgenen Persönlichkeit aufzudecken. Würde ich dabei völlig willkürlich vorgehen, wäre das Gesicht entstellt und nicht mehr zu erkennen. Das Problem besteht darin, durch Auflösen und neu Montieren das Eigentliche, das Typische herauszuarbeiten. Und das ist, so komme ich auf den Anfang zurück, wirklich nicht einfach.

Wie oft wurde mir vorgeworfen, so entstellte Portraits zu malen, so schräge Köpfe, so schreckliche Augen, so hässlich und gemein. Ob ich die Menschen hassen würde? Nein, sage ich, es ist die reine Liebe. Und die tut manchmal weh.