Mama

Meine Mama dachte immer, dass alle Menschen, die zu einer meiner Ausstellungseröffnungen kämen, meine Freunde wären. Und sie könnte ihnen allen meine ganze Lebensgeschichte erzählen.

Ich habe es gehasst! Ich habe es gehasst, wenn ein Galerist seine Begrüßungsrede begann mit: Wussten Sie eigentlich, dass Günter Rückert eine Zangengeburt war? Ich meine, es geht doch niemanden etwas an, dass ich blutüberströmt und völlig zerdötscht zur Welt kam.

Ich habe es gehasst, als einmal eine mir unbekannte Studentin, die ca. 2 Meter groß war, mich so von oben herunter fragt, wie ich mich gefühlt habe, als ich mit 14 eine Nacht in der Ausnüchterungszelle der Dortmunder Bahnhofspolizei verbringen musste. Wen interessiert es, dass ich auf dem Gymnasium 2x pappen geblieben bin? Klammer auf: Bertold Brecht auch, Klammer zu. Dass ich mit 10 angefangen hatte, einen Kriminalroman zu schreiben, dass ich mit 3 Jahren gefragt habe, warum die Tante so große Titis hat, dass ich in der Pubertät dauernd Bilder gemalt habe, in denen Totenköpfe und grüner Schleim die Hauptrolle spielten und dass ich rote Beete auf den Tod nicht ausstehen kann? Ich hätte manchmal schreien können: Mama! Halt einfach deine Klappe! Ich kenn die Leute nicht!

Meine Mutter kam aus Ostpreußen, dem Rheinland des Ostens. Sie war ein masurisches Marialchen, lebenslustig, witzig, voller Wärme, bei kleiner Gestalt mit einem riesengroßen Herz ausgestattet. Wenn sie Geschichten von anderen Leuten aus der Siedlung erzählte, hat sie die immer nachgemacht. Sie konnte jeden perfekt imitieren und parodieren. Wir konnten uns immer wegschmeißen vor Lachen, wenn sie mit entsprechender Mimik, Gestik und Stimme z.B. erzählt hat, wie die olle Koslowski mit dem Podgorny eine Affäre hatte, wie ihr Mann ihr auf die Schliche kam, wie die ganze Straße davon wusste, nur Frau Podgorny nicht, die ihrerseits im Karnickelstall vom Skibitzki den Sohn von Prassek verführen wollte, der war zwar im Boxverein aber heimlich in einen Spieler vom VfL Bochum verliebt usw usw

Für sie war die Welt belebt. Sie sprach mit den Möbeln, sang dem Kühlschrank etwas vor und unterhielt sich mit dem Ofen. Wenn der Kohleofen bullerte, lobte sie ihn fürs bullern, konnte ihm aber auch gut zureden, wenn es mit dem Bullern nicht so klappen wollte. Das war für sie und eigentlich für uns alle normal.

Masuren war eine Ecke Europas, die erst sehr spät christianisiert wurde, und das wohl auch nicht mit aller Härte und Konsequenz wie andere Länder. Wahrscheinlich gab es in den Sümpfen zu wenig zu holen. Da wurden noch bei Vollmond Hähne für eine bessere Ernte geschlachtet, da haben meine Mutter und ihre Schwester den Gutsbesitzer beim nächtlichen Kartenspiel mit dem Satan beobachtet, da waren die bleichen Gnome für diverse Krankheiten verantwortlich, da war Opa Wisniewski im Nebenberuf Teufelsaustreiber, da wurde mit Flußkieseln die Zukunft gelesen und ich schwöre: immer wenn wir als Kinder mit Blumen gespielt haben, ist in der Straße einer gestorben. Meine Mutter konnte einem Apfel durch Berührung magische Heilkräfte verleihen.

Als ich vor 30 Jahren gerade so anfing, Künstler werden zu wollen und auch schon zwei vielversprechende Ausstellungen in einer Kneipe und einem Möbelfachgeschäft hatte, war meine Mutter zur Kur in Aachen. Als ich sie besuchte, kamen wir bei einem Spaziergang an einer Galerie vorbei. Wir sind dann da mal reingegangen, um mal so ein bisschen zu gucken und dann wieder zu gehen. Aber Mama direkt auf die Galeristin zu: Das ist mein Sohn! Der war eine Zangengeburt! Der malt auch! Der war schon im Fernsehen!

Ich dachte nur: Gebt mir einen Spaten, damit ich ein Loch graben und darin verschwinden kann! Fernsehen!! So ein Scheiß! Ich war zwar mal im Fernsehen, aber nicht wegen meiner Malerei. Die Galeristin bat mich, ihr mal ein paar Sachen von mir zu schicken und ein paar Monate später hatte ich meine erste Ausstellung in einer echten Kunstgalerie! Das war der Türöffner! Von da an ging es bergauf!

Sie erzählte jedem, der es hören wollte oder auch nicht, folgende Anekdote: Als ich in die Schule kam, sollte ich die Schiefertafel mit der Hausaufgabe vollschreiben. Als ich damit fertig war, soll ich angeblich alles wieder abgewischt haben. Und auf die Frage meiner Mutter, warum ich das mache, das müsse ich doch der Lehrerin zeigen, soll ich gesagt haben: Das braucht die doch nicht zu sehen! Manchmal frage ich mich heute noch, wie ich mit dieser Grundeinstellung zu einem Beruf gekommen in, der darauf angelegt ist, sogar wildfremden Menschen meine Arbeiten zu zeigen.

Ich habe dann angefangen, eine gute Freundin zu bitten, während der Vernissagen ein wenig auf meine Mutter aufzupassen. Aber Mama ist der Aufpasserin dann doch wieder entwischt: Eine ganz große Ausstellung in der Konzernzentrale eine ganz großen Energieunternehmens, mit viel Prominenz aus der Chefetage und der lokalen Politik, ganz großer Bahnhof also. Irgendwann merke ich, dass sich kein Mensch für meine Bilder interessiert. Alle stehen sie mitten im Raum im Kreis. Und mitten in diesem Kreis meine kleine Mama und erzählt von ihrer Flucht aus Ostpreußen.

Ostpreußen war durch die russische Armee vom Rest des Reiches abgetrennt. 2,5 Millionen Menschen machten sich auf den Weg nach Westdeutschland. Und der einzige freie Weg führte über das frische Haff über die zugefrorene Ostsee zur langgzogenen Halbinsel kurische Nehrung und dann weiter nach Pommern. Das bei Temperaturen von minus 20 Grad Celsius im Januar 1945. Auf dem Eis stand bis zu 15 cm hoch Eiswasser, durch das sie über 30 Kilometer laufen mussten. Alte und Kinder starben an Entbehrungen und Erfrierungen, viele gerieten unter das Eis, ganze Gespanne mit Planwagen wurden verschluckt. Meine Mutter sah, wie neben ihr eine Eisscholle umkippte und eine Frau mit Kinderwagen unter sich begrub. Unterwegs ging ihr geliebter Ohpke (Ruhrdeutsch: Oppa) verloren, sie sah tote Soldaten am Wegrand liegen, von englischen Phosphorbomben beleuchtet, die die eiskalte Nacht in grünes Licht tauchten. Und in Danzig haben sie zum Glück die Gustlow verpasst, die von einem russischen U-Boot mit 10.000 Menschen an Bord versenkt wurde.

Und so weiter, und so weiter

Ich dachte: Okay Mama, das war´s dann wohl mit meiner Ausstellung. Aber was war: Ich habe weder vorher noch hinterher jemals so viele Bilder verkauft, wie in dieser Ausstellung. Sie konnte auch ohne Ende masurische Witze erzählen. Mein Lieblingswitz behandelt die masurischen Städte Lück und Lötzen:

Fährst nach Lück
Kommst zurück
Fährst nach Lötzen
Machst den selben Blödsinn