Blutsbrüder

Wir waren 10 Jahre alt, es war Sommer und wir latschten von der Siedlung Richtung Friedhof, bis Lütgenbömmel und da ins Kino, ins Universum. Der Film hieß Winnetou 1 und war gleichzeitig der allererste Film, den wir überhaupt im Kino sahen. Was für ein Erlebnis, diese Riesenleinwand, die vielen Menschen und erst recht: Dieser Film. Wir verehrten und vergötterten Winnetou und Old Shatterhand, waren verliebt in Nscho Tschi und waren am meisten beeindruckt von der Szene, in der die beiden Blutsbrüderschaft schlossen. Als wir aus der Vorstellung kamen, waren wir verwandelt: Wir waren Winnetou und Old Shatterhand. Wir waren stark, schnell, unbesiegbar und spielten, wie viele andere Kinder auch, einzelne Szenen des Films nach.

Aber Pedda und ich gingen einen Schritt weiter: Wir wollten nicht nur spielen. Wir wollten das sein, was die beiden Helden auch waren: Wir wollten Blutsbrüder sein. Wir wollten dieses starke Band knüpfen, uns dieses für alle Zeiten gültige gegenseitige Versprechen abgeben. Für immer in allen Lebenslagen füreinander DA SEIN! Wir wollten dieses allen Gefahren dieser Welt trotzende Paar werden. Und wir wussten im allertiefsten Innern, dass man im Leben nur ein einziges Mal mit einem anderen Menschen dieses Bündnis eingehen darf. Nur ein einziges Mal darf man diese Entscheidung treffen und diesen heiligen Schwur abgeben. Der nie wieder zurückgenommen werden kann.

Wir waren 10 Jahre alt, es war Sommer, und das war unser heiliger Ernst. Es sollte ein starkes, gewaltiges Ritual werden, in dem wir unser Vorhaben in die Tat umsetzen wollten. Und es war klar, dass es mit einem einfachen Versprechen nicht getan war. Es musste gut durchdacht und geplant werden.

Die erste Frage war die nach dem Zeitpunkt. So was macht man ja nicht irgendwann so nebenbei. Aber diese Frage war schnell beantwortet: Wir würden es tun,, wenn die Sichel des Mondes sich rundet. Boah! Das waren Worte aus einer anderen Welt, aus einer Welt ohne Terminkalender, Uhrzeiger oder Pünktlichkeitswahn, aus einer Welt, in der Zeit nicht zählbar war, aus einer Welt archaischer Weisheiten, aus einer Welt des Spurensuchens und Anschleichens, aus einer Welt absoluter Freiheit. Aus der Welt der Apatschen!

Die zweite Frage war die nach dem richtigen Ort. Es musste ein Ort in freier Natur sein, ein Ort an einem Wasser, an einem Fluss oder See. Diese Frage war schon schwieriger zu beantworten: Es gab in unserer Gegend keinen See und erst recht keinen Fluss. Das einzige Gewässer in der Nähe war der Abwasserbach Köttelbecke, der hinter der Siedlung durch die Brache floss. Der gehörte zur Emschergenossenschaft, war in einem Betonbett kanalisiert und mit Stacheldraht eingezäunt. Ein Schild warnte vor Lebensgefahr. An manchen Tagen stank es bestialisch und je nach Windrichtung kroch der Geruch durch die ganze Siedlung. Zwischen den Schrebergärten und dem Bach war Brachland, ein wild wucherndes Gelände, wilde Wiese, Dornengestrüpp, vereinzelte Sträucher und dickblättrige Pflanzen ohne Namen, ähnlich wie das Land der Apatschen. Wir suchten uns eine geeignete, nicht einsehbare Stelle am Stacheldrahtzaun aus, an der wir zur Tat schreiten wollten.

Nächste Frage: Die Friedenspfeife. Bevor die beiden im Film ihre Brüderschaft besiegelten, wurde unter Trommelbegleitung eine Friedenspfeife geraucht. Die Trommel ließen wir weg, aber das mit der Pfeife musste wohl sein. Wir hatten keine Pfeife, aber wir hatten Väter, die Zigaretten rauchten. Also klauten wir zwei Zichten und waren so weiter für die Sache gerüstet. Das Rauchen selbst würde uns keine Probleme bereiten, das hatten wir mit den Rautenbergbrüdern schon ein paarmal unter den Büschen hinter der Siedlungskantine ausprobiert. Aber auch das erschien uns alles noch viel zu einfach. Wir brauchten etwas besonderes, ein Opfer, mit dem wir den Bund besiegeln konnten. Wir überlegten, einen Gegenstand, eine Art Totem an der Stelle zu vergraben. Ein Gegenstand, der uns besonders wichtig und wertvoll war. Etwas, an dem unser Leben hing und das wir der geweihten Erde am Ufer der Köttelbecke überantworten wollten. Das Problem war: Wir hatten nichts wertvolles, keine Armbanduhr oder Fotoapparat oder teures Spielzeug, irgendwas, das wirklich herausragend wichtig war. Das einzige von Wert, das wir besaßen, waren unsere Autoquartett-Kartenspiele. Die waren damals ganz groß in Mode und fast alle Kinder hatten so eins und wir konnten stundenlang spielen, wer das größte, das stärkste oder auch das ungewöhnlichste Auto auf der Karte hatte. Heute kämen dafür wahrscheinlich die Smartphones in Frage. Ich weiß nicht wie, aber wir konnten uns nach langem Hin und Her dazu durchringen, diese dazu auch noch gerade nagelneuen Spiele in Originalverpackung zu opfern.

Wir vergruben sie mit bloßen Händen am Fuß des Zaunes und konnten nun zum entscheidenden Teil der Zeremonie kommen. Aber bevor es dazu kam, stellten wir fest, dass wir ein nicht unbedeutendes Detail vergessen hatten: Ein Messer! Wir brauchten ein Messer, um uns den Arm aufzuschneiden, die blutenden Wunden aneinander zu halten und damit den Bund zu besiegeln. Ich war davon ausgegangen, dass Pedda eins dabei hat und er hatte gedacht, dass ich ein Messer mitgebracht hätte. Bis hierhin waren wir gekommen, hatten alles erledigt, unsere Opfer vergraben, die Zigaretten geraucht und nun standen wir belämmert vor der Absperrung der Köttelbecke. Aber: Dieser Zaun war ja aus Stacheldraht und so beschlossen wir, unsere Arme an einem der rostigen Stachel aufzuschlitzen. Pedda meinte, es müsse vielleicht nicht der ganze Arm sein. Klar, etwas kleiner geht auch. Lasst und die Finger nehmen. Genau! Ein Finger kann auch bluten.

Und so wurde es beschlossen. Wir fingen an, unsere Zeigefinger, und zwar an den Spitzen, am Drahtdorn auf zu schnippeln. Uns war natürlich nicht klar, dass an den Fingerspitzen extrem viele Nerven zusammen kommen, dass die Haut hier härter und fester ist und es hier besonders schmerzhaft wird. Wir stachen und rissen unter entsetzlichen Schmerzen immer weiter, bis endlich Blut kam. In diesem Moment kam Dirki Lennartz auf uns zu. Der dicke Dirki, den keiner leiden konnte, der nie zum Pöhlen eingeladen wurde, der auch viel zu langsam im Denken war, also nicht die dickste Kartoffel im Sack, die hellste Kerze auf der Torte. Was macht ihr da? Wollte er wissen. Wir standen da mit unseren blutenden Fingern und müssen ihn so finster und grimmig angeschaut haben, dass er irritiert, nichts Gutes ahnend den Rückzug antrat. Als er endlich weg war, hatten die Finger gerade wieder aufgehört zu bluten und wir mussten nochmal nachhelfen; unter Schmerzen, die noch schlimmer als vorher waren. Und unter Tränen hielten wir endlich die Wunden aneinander und sprachen die alles besiegelnden Worte: Mein Bruder!